wespennest zeitschrift
Wespennest Nr.185
Wespennest Nr.185

Über Tiere

Gegen die Verrohung des Menschen im Ersten Weltkrieg, in dem mit den Soldaten auch unzählige Pferde, Kamele, Hunde und Tauben geopfert wurden, stellt Karl Kraus wiederholt den „Büffelbrief“ Rosa Luxemburgs, geschrieben 1917. Im Hof ihres „Kittchens“, dem Frauengefängnis in Breslau, beobachtete Luxemburg damals einen Transportwagen. Ihm vorgespannt waren Büffel, die sich abmühten, die schwere Fracht über die Schwelle der Einfahrt zu ziehen. Der begleitende Soldat hieb so lange auf sie ein, bis die Haut eines der Tiere, Zeichen für Dicke und Zähigkeit, zerriss. Die „Träne“ Luxemburgs, ihr Mitleiden hält den Satiriker Kraus gefangen, der Brief gilt als Ausdruck einer Nähe zur Natur und zum „guten Vieh“.

Dort die sanften Büffelaugen, die Luxemburg an ein „verweintes Kind“ erinnern, hier – auf dem Cover der Herbstausgabe des wespennest – der skeptisch-beobachtende Blick des Schimpansen, fotografiert von Walter Schels. Dazwischen ein Jahrhundert, in dem sich das Verhältnis Mensch-Tier, das Tier-Halten, Tier-Essen und Tier-Werden, grundlegend gewandelt hat. Die Tiere sind erwachsen geworden, ihre Rechte gestärkt. Bleibt als Unterschied die singuläre Sprachwahrnehmung und Sprachproduktion des Menschen? Gib mir eine Tastatur und ich schreibe dir die Antwort – auch das könnte der Blick des Schimpansen sagen.

Außerhalb des Schwerpunkts hat in diesem Heft erneut die Dichtung ihren Auftritt, allen voran jene aus Belarus: Tania Skarynkina, Maria Badzei, Kryscina Banduryna und Lina Kazakova gehören unterschiedlichen Generationen an und schreiben ihre Gedichte auf Russisch wie auf Belarussisch. Auf die Wirklichkeit erstarrter und zugleich unberechenbarer postsowjetisch-diktatorischer Verhältnisse in ihrem Land reagieren sie mit einer großen Breite an Tonlagen: nüchtern beschreibend, wehmütig beschwörend, suchend und mitunter hoffend.

Der Buchbesprechungsteil widmet sich der Biografie und Poetik Warlam Schalamows, der literarischen Prominenz unter den Berichterstattern von den Nürnberger Prozessen, dem transkulturellen Schreiben Yoko Tawadas und einer – bislang auf Deutsch noch nicht erschienenen – italienischen Graphic Novel über die als Gegner des italienischen Faschismus auf eine pontinische Insel deportierten Vordenker eines vereinten Europa.


Wespennest Aktuelles
AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel stimmte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl am 19. September in Wien in dessen Ruf nach der „Allianz der patriotischen Kräfte“ ein. Die Erläuterung, wie eine solche Allianz bei der Europawahl im Juni 2024 die offenkundigen Widersprüche in der ultrarechten Auslegung des „Europas der Vaterländer“, einst Schlagwort Charles de Gaulles, überwinden wolle, blieben beide schuldig. Dass es allerdings zum Schaden der Rechten sei, wenn auch die alte Linke dem Nationalismus ein Lied singt, ist ein Fehlschluss, wie Jan Koneffke in einem Rückblick auf die Dogmen eines umtriebigen Bekannten seiner Jugendjahre festhält.

Der literaturhistorische Blick zurück mag der in einen Zerrspiegel sein. Und doch macht er gesellschaftliche Verhaltensweisen im Krisenfall sichtbar, dessen Symptome auf einen Nenner gebracht werden können: kapitalistische Produktion – brennen, bis nichts mehr bleibt. Ein Gegenentwurf, findet Florian Baranyi, müsste auf einen Stoff setzen, der sich nicht vernutzen lässt.

Mit frei verfügbaren Übersetzungsprogrammen lassen sich selbst komplexe Satzkonstruktionen beeindruckend – oder erschreckend – gut übertragen. Thomas Eder konfrontiert eine viel gelobte Software mit einem „Holzwegsatz“ des US-amerikanischen Linguisten Thomas Bever und zeigt gewitzt ihre Grenzen auf. Hat die humane Textproduktion also doch eine Zukunft?

Am 13. April 2022 verstarb die italienische Fotografin Letizia Battaglia, die als Chronistin der sizilianischen Mafia unser Bild von der Cosa Nostra geprägt hat – inszeniert als Szenen eines Stücks mit klar umrissenen Rollen. Florian Baranyi rückt der Theatermetapher in Zeiten von Krieg auf den Leib.

Die Welt ist eine andere geworden – und dreht sich doch weiter. Während Russland den Krieg gegen die Ukraine unentwegt anfacht und viele Menschen auf der Suche nach einem sicheren Ort ihre Städte und Dörfer verlassen, gehen wir hier unbeirrt unserem Alltag nach. Ist das zulässig? Und kann die Beschäftigung mit Literatur etwas zum Verständnis der Situation beitragen? Lukas Meschik ringt mit einem bekannten Diktum Thomas Bernhards.

Wespennest Zeitschrift
Heft 184 |w184| Wie lange eine Ordnung hält, ist nicht vorhersehbar. Wer von „Zeitenwende“ spricht, steht auch vor der Frage, welche der alten Regeln noch gelten und woraus sich Neues formt.
Heft 183 |w183| Das Bedürfnis, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, scheint ein ethisches Gebot zu sein. Was aber, wenn man Fakt und Fiktion nicht so leicht unterscheiden kann?
Heft 182 |w182| Unzählig sind die Versuche, den Zufall zu lenken, denn als Schicksal etwa ist er zutiefst ungerecht. Für die Kunst jedoch bleibt er unerschöpfliche Quelle der Inspiration.
Wespennest Vorschau
wespennest 186
No Future
Preis: EUR 14.00;
erscheint am 06.05.2024

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